Stresskompetenz : Karussell im Kopf
Stresskompetenz

Karussell im Kopf

Foto: Tomas Ragina/iStock; Stefan Papp / Bildquelle
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Schlechte Nachrichten verfolgen uns dank Smartphones überallhin, bei Tag und Nacht. Im Moment ist der Ukraine-Krieg das Thema Nummer eins, davor war es Corona. Wohin mit all den Sorgen im Tagesgeschäft? Wie können Unternehmen ihre Mitarbeiter stärken?

"Wir geraten von einer Katastrophe in die nächste Schlimmere", so beschreibt das Kölner Marktforschungs-Insitut Rheingold das Gefühl vieler Menschen nach dem Ausbruch des Kriegs in der Ukraine. Gerade noch war die Pandemie das beherrschende Thema, nun sorge der Krieg für das Gefühl, in einer Krisen-Dauerschleife zu stecken. "Die Menschen haben das schwindelige Gefühl, dass ihnen der Boden unter den Füssen entzogen wird", fasst das Institut das Ergebnis einer tiefenpsychologischen Untersuchung zusammen, die seit Anfang der Pandemie die Verfassung der Menschen untersucht.

Viele Bürger würden sich derzeitig ohnmächtig fühlen und wie paralysiert in den Kriegs-Abgrund blicken. Ihre Untergangsängste ständen dabei im Gegensatz zu dem wie gewohnt funktionierenden Alltag und würden ihnen das Gefühl verleihen, "Teil einer schlechten Serie" zu sein. Mit unterschiedlichen Strategien werde versucht, der Ohnmacht zu begegnen. Dazu gehören Solidaritätsbekundungen, Spendenaufrufe und Hilfseinsätze, ständiges Updaten der Nachrichtenströme, aber auch Ablenkungsmanöver und Entspannungstechniken.
„Du fragst mich, wie es mir geht? Gut, aber ich kann nicht mehr“
Coach Ulrike Woll zur Gefühlslage vieler Menschen


"Der Krieg fällt auf die Zermürbtheit durch die Corona-Krise", konstatiert die Rheingold-Psychologin Birgit Langebartels. Die Pandemie verlangte eine dauernde Übervorsicht. Die meisten Bürger seien daher häuslicher geworden und hätten sich in ihr privates Schneckenhaus zurückgezogen. Infolgedessen beobachten 30,5 Prozent der Befragten an sich eine gewisse Antriebslosigkeit. 29 Prozent haben an Dingen die Lust verloren, die ihnen früher Freude bereitet haben. Und 23,4 Prozent fürchten gar bequem geworden zu sein und das alte Aktivitätslevel nicht mehr zu erreichen. "Spontanität wird durch ständige Selbstkontrolle ersetzt, Schuldgefühle sind zum Alltagsbegleiter geworden – die Deutschen leiden an Melancovid", erklärt der Leiter des Rheingold Instituts, Stefan Grünewald.

"Du fragst mich, wie es mir geht? Gut, aber ich kann nicht mehr", beschreibt Ulrike Woll die Verfasstheit der Menschen, mit denen sie als Coach und psychologische Beraterin in Firmen zu tun hat. Stresskompetenz gehört zu ihren Kernthemen. "Gefühlt kommt zu den normalen Belastungen immer noch etwas oben drauf." Patentrezepte zur Stressbewältigung gebe es nicht. "Es kostet Mühe und Aufmerksamkeit, individuell für sich zu sorgen", so Woll. Das kann damit beginnen, Nachrichten nur dosiert zu konsumieren und damit enden, dass man seinem Bedürfnis zu helfen folgt. "Wer losfährt, um an der Grenze Flüchtlinge zu unterstützen, kann das nicht jeden Tag tun, muss also auch hier wieder schauen, wo die eigene Grenze verläuft."

Unternehmen rät sie dazu, zum Krieg im Dialog mit den Mitarbeitern zu bleiben: "Alles ist besser, als zu schweigen." Denn die Distanz zwischen der Rolle als Arbeitnehmer und Privatperson sei in den letzten Jahren kontinuierlich geschrumpft – verstärkt durch das Homeoffice. Haben Nöte und Sorgen auch im Dienst ihren Platz, so stärke das grundsätzlich die Produktivität. "Man kann die Frage, was zu tun ist, ja an die Belegschaft zurückspielen und gemeinsam Ideen entwickeln", empfiehlt Woll Führungskräften. Zudem könnten Arbeitgeber extern professionelle psychologische Hilfe einkaufen, wie auch sie sie anbietet. Das Ziel: "Es soll dem Mitarbeiter gut tun, zur Arbeit zu kommen."

Ulrike Woll: Unter dem Namen Sanibona bietet sie Firmen und Privatpersonen Unterstützung an zu Themen wie Selbstmanagement und Stresskompetenz.
Foto: Privat
Ulrike Woll: Unter dem Namen Sanibona bietet sie Firmen und Privatpersonen Unterstützung an zu Themen wie Selbstmanagement und Stresskompetenz.


Der Pme-Familienservice gehört zu den großen Dienstleistern in Deutschland, die Unternehmensmitarbeiter bei Kinderbetreuung, Pflege von Angehörigen aber auch mit psychosozialer Beratung unterstützen. Gerade Anfragen aus diesem Bereich des "Lebenslagencoachings" sind 2021 gegenüber 2020 um 20 Prozent gewachsen. Nicht wenige Kunden kauften den Baustein zum Familienservice dazu, gibt die Produktverantwortliche Jutta Dreyer Auskunft. "Schon vor der Pandemie haben wir einen kontinuierlichen Anstieg der Anfragen zu den Themen Stress, Burn-out, Arbeitsverdichtung und ständige Erreichbarkeit verzeichnet", erklärt sie. Mit dem Beginn der Pandemie und den ersten Lockdowns wuchs die Nachfrage erneut. "Auffallend war, dass die Zahl der Einsätze in psychosozialen Notfällen stark angestiegen ist." Hierbei geht es um die Betreuung von Führungskräften und Teams bei schweren Unfällen oder Tod von Kollegen. Psychologische Expertinnen unterstützen in diesen Fällen vor Ort und betreuen die betroffenen Kollegen und Angehörigen. "Des Weiteren verzeichnen wir einen merklichen Anstieg von Anfragen zu Angstzuständen und Depressionen." Auch wenn jetzt der Krieg die Menschen noch mehr belastet, lohnt es sich für Unternehmen in der Regel nicht, selbst ein Psychologenteam aufzubauen, sagt Jutta Dreyer: "Externe Dienstleister können viel besser bei akuten Problemen unterstützen, weil sie die nötigen Personalressourcen und die Expertise haben, mit solchen Situationen umzugehen. Aufgabe der Unternehmen sei es, die Firmenkultur so umzubauen, dass Belastungsfaktoren für Beschäftigte und Führungskräfte reduziert und Sinnhaftigkeit und Mitgestaltungsmöglichkeiten der Arbeit gestärkt werden.

L‘Oreál zeigt – beispielhaft für viele andere – wie ein Hilfs-Mix angesichts des Kriegs in der Ukraine aktuell aussehen kann: Für kostenlose psychologische Hilfestellung gibt es schon lange die Kooperation mit dem Fürstenberg Institut. Doch praktische Unterstützung für die 326 Kollegen in der Ukraine und ihre Landsleute koordiniert das Unternehmen. Täglich finden Krisensitzungen statt, die interne Kommunikation versorgt die Angestellten mit Updates. "Und weil alle etwas tun wollen, informieren wir über NGOs und spezielle Ukraine-Hilfsaktionen", sagt Stefan Geister, Leiter Kommunikation und Engagement. L‘Oréal hat ein Freiwilligenprogramm für Mitarbeiter ins Leben gerufen, das vor allem in Polen und Rumänien aktiv ist. Auch der weltweite L‘Oréal Citizen Day im Juni wird sich den Kriegsflüchtlingen widmen. Es gab Überlegungen, diesen vorzuziehen. "Aber es geht nicht nur darum, sofort etwas zu tun. Genauso wichtig ist es, langfristig Hilfe zu organisieren", erklärt Geister. Solidarisches Handeln stärkt uns, erklärt die Theologin und Pädagogin Ulrike Woll. "Funktioniert langfristig aber nur, wenn wir selbst auf uns achten, nicht in einen destruktiven Strudel zu geraten."






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