32 Jahre nach der Wiedervereinigung verdienen die Beschäftigten im Osten im Durchschnitt immer noch 13,7 Prozent weniger als im Westen. Nur dort, wo Tariflöhne gezahlt werden, gibt es inzwischen keine wesentlichen Ost-West-Unterschiede mehr, zeigen Zahlen der Hans-Böckler-Stiftung. Doch ist die Tarifbindung im Osten generell schwächer als im Westen: 2020 hatten nur 18 Prozent der ostdeutschen Betriebe aus Landwirtschaft und verarbeitendem Gewerbe einen Branchen- oder Haustarifvertrag, 27 Prozent sind es im Westen. Und die Bindung bröckelt mit dem Glauben an Verhandlungserfolge: Viele Tarifverträge der ostdeutschen Ernährungswirtschaft sind 2019/ 2020 ausgelaufen, ohne dass die Parteien sich zu neuen Gesprächen an den Tisch setzen. Zu dieser Zeit hätten die Gewerkschaften das Thema Lohngefälle Ost-West stärker in den Fokus gerückt als die wirtschaftliche Machbarkeit, sagen Vertreter von zwei ANG-Landesverbänden. Dadurch habe sich die Schere zwischen dem Maximalangebot der Unternehmen und der Mindestforderung der Gewerkschaft drastisch vergrößert.
"Unsere Mitgliedsunternehmen sperren sich nicht gegen das Prinzip gleicher Löhne. Sie haben aber ein Problem mit dem von der NGG geforderten Zeithorizont", erklärt Stefanie Sabet, Hauptgeschäftsführerin der Arbeitgebervereinigung Nahrung und Genuss. "Es gibt aktuell vielerorts keinen Dialog." Die Folge: Lohnerhöhungen müssen einzelbetrieblich verhandelt werden.
"Häuserkampf" nennt Vehid Alemić vom Verband der Ernährungswirtschaft Niedersachsen Bremen Sachsen-Anhalt (VdEW) das, was droht, wenn immer mehr Tarifgemeinschaften auseinanderbrechen. Zudem sieht er eine Tendenz, dass die Gewerkschaft "in stark organisierten Bereichen sehr hohe Forderungen aufstellt, die schwer erfüllbar sind." Umgekehrt würden in weniger organisierten Bereichen Flächentarifverträge aufs Spiel gesetzt. In Sachsen-Anhalt habe er alles daran gesetzt, um die Tarifgemeinschaft neu zu beleben. Zwei Jahre wurde verhandelt, um den Ende 2019 ausgelaufenen Tarifvertrag für über 4 000 Beschäftigte wiederherzustellen. "In intensiver und mühevoller Kleinarbeit haben wir einen Vertrag mit einer schrittweisen Anhebung der Löhne um jährlich vier bis 4,5 Prozent bis 2026 verhandelt", sagt Alemić. Den neuen Mindestlohn habe man antizipiert und auch früh verstanden, dass das Abstandsgebot eine wesentliche Voraussetzung für den Verhandlungserfolg mit der Gewerkschaft ist.
26 Prozent Plus über die gesamte Laufzeit sind nicht wenig. Doch ist der VdEW-Geschäftsführer über den Abschluss "glücklich und froh", weil er allen Beteiligten Planungssicherheit und Klarheit für die Zukunft gebe. "Die Lohnmauer bröckelt weiter", verbuchte die NGG den Abschluss ihrerseits als Erfolg und führte als Beispiel Rotkäppchen auf, wo "der bestehende Lohnunterschied zu dem westdeutschen Standort in Hessen fast komplett abgebaut wird."
Dass die Einigung bereits im April 2022 glückte, erspart den Beteiligten den Umgang mit dem neusten Reizthema: Inflationsausgleich. "10 Prozent plus", hat die NGG gerade deutschlandweit als Lohnforderung für 2023 empfohlen. Stefanie Sabet appelliert indes an Weitsicht bei den Verhandlungen: "Gerade in diesem schwierigen Winter ist der Zusammenhalt der Sozialpartner, von Unternehmen und Beschäftigten, gefragt um Existenzen zu sichern – und nicht die Konfrontation."