Ein Drittel aller Nahrungsmittel landet nicht auf dem Teller, sondern auf dem Müll. Angesichts der wachsenden Weltbevölkerung rückt das Thema immer stärker in den Fokus der UN, der EU und der Bundesregierung, der Erzeuger sowie der Ernährungsindustrie. Auch der Einzelhandel ist gefordert, obwohl er den geringsten Anteil an der Lebensmittelverschwendung hat.
Das Hausgerät schickt als Antwort prompt ein Selfie seines Innenlebens. Die 48-Jährige checkt ihre Vorräte auf dem Foto und legt nur das in den Einkaufskorb, was sie wirklich benötigt. Keine Zukunftsmusik, sondern Alltag in Swadlincote in der britischen Grafschaft Derbyshire. Zumindest für 20 Familien, denen Supermarktbetreiber Sainbury’s, unterstützt von Bosch, einen kamerabestückten kommunikativen Kühlschrank ins Haus gestellt hat – kostenlos. Debby Yates ist eine der Testerinnen und findet das Gerät "wirklich hilfreich". Sie müsse nun viel weniger Lebensmittel wegwerfen, was die Haushaltskasse spürbar entlaste.
"Foodwaste" kostet einen durchschnittlichen britischen Haushalt 470 Pfund pro Jahr. Familien mit Kindern verschwenden bis zu 700 Pfund, hat das "Waste and Resources Action Programme" (WRAP) errechnet. Zum großen Teil rührt die Verschwendung daher, dass die Menschen nicht wissen, wie sie mit Nahrungsmitteln planvoll und sparsam umgehen können – oder das Thema ist ihnen gleichgültig. So gebe es Verbraucher, die am Ende der Woche, vor dem nächsten Einkauf, alles unbesehen wegwerfen, was sich noch im Kühlschrank befindet. Aufklärung tut Not, schlussfolgert Einzelhändler Sainsbury’s, der mit WRAP kooperiert. 10 Millionen britische Pfund will er für diverse Aktivitäten in die Hand nehmen.
Die erste Million floss nach Swadlincote. Die 30 000 Einwohner zählende Gemeinde ist ein Labor für den zweitgrößten britischen Food-Händler, der hier im Rahmen seiner "Waste less, save more"-Initiative die unterschiedlichsten Maßnahmen ausprobiert hat, damit weniger Essbares in den Abfalltonnen landet. Er drehte Videos, die zeigen, wie man Obst und Gemüse richtig lagert, klebte Thermometer an Kühlschränke, entwickelte Rezepte für Reste und verteilte Mülleimer mit Waagen. Je nach Maßnahme berichteten "zwischen 45 und 98 Prozent der Teilnehmer, dass sich ihre Lebensmittelabfälle verringert haben", teilt Sainsbury’s mit. Mit dem Ergebnis ist der Händler so zufrieden, dass er 147 weitere Orte unterstützen will.
Ein Drittel aller Nahrungsmittel geht weltweit zwischen Farm und Teller verloren oder wird verschwendet. Das entspreche rund 850 Milliarden Euro und verursache 8 Prozent der CO2-Emissionen, hat die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) errechnet. Dabei ist die Verschwendung zwar in allen Ländern etwa gleich hoch, die Ursachen jedoch sind unterschiedlich. In den Entwicklungsländern treten 40 Prozent der Verluste nach der Ernte und im Verlauf der Produktion auf, zum Beispiel, weil die Kühlkette nicht funktioniert oder aufgrund sonstiger hygienischer Probleme. In den Industrieländern dagegen entfällt der größte Teil auf den Verbraucher – in Deutschland sind es 61 Prozent nach einer Studie der Uni Stuttgart. Jeder Deutsche wirft pro Jahr 82 Kilogramm Lebensmittel weg; zwei Drittel wären noch verwertbar gewesen, so die Forscher.
Längst hat das Thema die Politiker auf den Plan gerufen. Die Verschwendung soll auf Konsumenten- und Handelsebene bis 2030 halbiert werden, wurde beim Pariser Klimaschutzabkommen 2015 im Nachhaltigkeitsziel 12.3 festgelegt. "Um Foodwaste zu bekämpfen, müssen wir die Wertschöpfungskette umgestalten, um Verschwendung auf jeder Stufe auszuschalten und überschüssige Nahrung denen zur Verfügung zu stellen, die in Not sind", fordert der zuständige EU-Kommissar Vytenis Andruikaitis. In der EU werden 88 Millionen Tonnen Nahrungsmittel jährlich verschwendet, so die Studie "Fusions".
Ein großangelegtes und über vier Jahr laufendes Projekt soll dafür sorgen, dass den Worten Taten folgen. An "Refresh" beteiligen sich 26 Partner aus 12 europäischen Ländern und China, "gewissermaßen als Kontrollgruppe", wie Toine Timmermans betont. Der Wissenschaftler der Universität Wageningen koordiniert das Mammut-Vorhaben, das noch bis Juni 2019 läuft. Forschungseinrichtungen sind darin ebenso vertreten wie Unternehmen und Regierungsorganisationen. "Wir brauchen systematische Ansätze", sagt Timmermans. "Doggy Bags für Reste sind o.k., aber nicht die Lösung."
Auf deutscher Seite ist unter anderem Aldi Süd seit vergangenem Jahr dabei. "Die Teilnahme an der Initiative bietet uns die Möglichkeit zum Austausch mit relevanten Stakeholdern", begründet der Discounter. Lebensmittelverschwendung sei ein Wertschöpfungsketten-übergreifendes und gesamtgesellschaftliches Thema. "Gemeinsam entwickeln und prüfen wir innovative Ansätze zur Vermeidung und Verwertung von Resten." Mit weiteren Aktivitäten in diesem Jahr will Aldi Süd verstärkt die Verbraucher sensibilisieren.
Die internationale Branchenorganisation "Consumer Goods Forum" (CGF) hat das Thema ebenfalls auf der Agenda. Schon 2015 rief sie in ihrer "Food Waste Resolution" alle Mitglieder auf, Lebensmittelverschwendung in ihren Unternehmen bis 2025 zu halbieren. Dabei soll ihnen der "Food Loss and Waste Accounting and Reporting Standard" helfen, den das CGF mit internationalen Partnern entwickelt hat. "Jetzt kann sich niemand mehr damit herausreden, er wüsste nicht Bescheid", kommentiert Craig Hanson, Direktor beim World Resources Institute, und ruft die Branche auf: "Setzt euch Ziele, messt und handelt."
Im vergangenen Jahr brachte die Branchenvereinigung anlässlich ihres ersten Sustainable Retail Summits in Paris eine Broschüre heraus, die Best-Practise-Beispiele aus Industrie und Handel weltweit zusammenfasst. Metro ist als einziges deutsches Unternehmen dabei. Auch der nächste Nachhaltigkeitsgipfel des CGF im Herbst hat Foodwaste wieder auf die Tagesordnung gesetzt.
Das CGF unterstützt zudem die internationale Initiative "Champions 12.3", die von Tesco-CEO Dave Lewis geleitet wird. Der führende britische Einzelhändler sieht sich als Vorreiter bei der Bekämpfung von Lebensmittelverschwendung. Seit 2013 veröffentlicht er detaillierte, auf einzelne Warengruppen heruntergebrochene Zahlen dazu, die er von der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG checken lässt. "Nur was man messen kann, kann man auch managen", begründet Lewis (siehe Seite 28). Bis Ende 2017 hat sich Tesco zum Ziel gesetzt, überhaupt keine Lebensmittel mehr in den Müll zu entsorgen. Alles soll verwertet oder gespendet werden.
Warum aber engagieren sich Handelsunternehmen in dieser Frage überhaupt? Schließlich sind sie nur für etwa 5 Prozent des Problems verantwortlich. "Das ist eine Frage des Anstands und der Verantwortung", sagen Top-Manager in seltener Einigkeit. Nicht nur in Großbritannien, auch in Deutschland. "Nahrung ist eine extrem wertvolle Ressource", sagt etwa Metro-Chef Olaf Koch. "Sie zu verschwenden, bedeutet nicht nur eine wirtschaftliche, sondern zugleich eine soziale und ökologische Bürde."
Angesichts der wachsenden Weltbevölkerung fühlt sich auch Rewe-Kaufmann Friedhelm Dornseifer "moralisch dazu verpflichtet", gegen Foodwaste aktiv zu werden. Edeka-Händler Peter Wehrmann sagt, er sehe sich als Händler "in der Verantwortung". Doch wie die britischen Protagonisten den Konsumenten explizit erzieherisch unter die Arme zu greifen, das geht den meisten deutschen Kaufleuten zu weit. "Das können und wollen wir nicht leisten", findet Rewe-Kaufmann Stefan Lenk. "Erziehung findet in der Familie statt", grenzt sich der Bundesverband des Deutschen Lebensmittelhandels (BVLH) ab. Gleichwohl nehme der Handel die Aufgabe wahr, seine Kunden bestmöglich zu informieren, "beispielsweise über die Erläuterung des Mindesthaltbarkeitsdatums (MHD) im Laden, Rezeptvorschläge zur Verwertung von Resten und andere bewußtseinsschaffende Aktionen wie den Verkauf von ‚Single‘-Bananen, die sonst oft liegenbleiben", so der BVLH.
Foodwaste zu vermeiden, gehöre ohnehin zum Kerngeschäft des Handels, argumentieren die Kaufleute. Denn was im Müll landet, kostet sie bares Geld. Also sorgen sie dafür, die Abschriften gering zu halten – mit Erfahrung, geschultem Personal, cleveren Prognosen und einer exakten Disposition, kreativer Resteverwertung in der angeschlossenen Eigenproduktion sowie rechtzeitigen Rabatten, wenn das MHD näherrückt. Was dennoch übrig bleibt, wird gespendet. Mancher, wie etwa Edeka-Kaufmann Dieter Hieber mit seiner neuen "Foodsharing-Box", probiert dabei neue Wege aus (siehe Seite 38).
Der Großteil der Lebensmittelspenden geht nach wie vor an die Tafeln. 930 lokale Initiativen in Deutschland listet der Bundesverband Deutsche Tafel derzeit auf. Nach Angaben des EHI Retail Instituts bekommen diese aktuell 35 bis 45 Prozent der nicht verkäuflichen Ware aus dem Handel. Der Prozentsatz sei in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen, beobachtet Frank Horst, der den Forschungsbereich Inventurdifferenzen leitet.
Rewe und Penny beispielsweise geben an, im Jahresdurchschnitt 99 Prozent ihrer Produkte zu verkaufen. "Das Gros des verbleibenden Prozents spenden wir an die Tafeln", so die Kölner. Zuvor würden Artikel, die ihr MHD in wenigen Tagen erreichen, bis zu 30 Prozent reduziert angeboten.
Penny ist der dritte Treffer, wenn man "Foodwaste" googelt (Stand: 8. August) und damit der in dieser Liste führende Händler. Ein von Janosch gezeichneter Comic-Frosch gibt auf der zugehörigen Seite Tipps für den Endverbraucher – vom cleveren Einkauf bis zum kreativen Umgang mit Resten aus der Speisekammer. Hier wirbt der Rewe-Discounter auch für seine "Bio-Helden": Obst und Gemüse mit Schönheitsfehlern. Aktuell sind 21 Artikel im Angebot. Seit der Einführung der Range mit Macken vor gut einem Jahr habe sich die verkaufte Menge um 7,5 Prozent erhöht, meldet das Unternehmen. Besonders gern griffen die Kunden bei Paprika, Gurken, Kiwis und Rispentomaten zu.
Dem Kult der Perfektion, gerade bei Obst und Gemüse, schwören inzwischen etliche Händler ab. Kritiker monieren jedoch, dass gerade die Großunternehmen der Branche mit ihren ausgefeilten Anforderungskatalogen an die Lieferanten eben diese Normierung überhaupt erst hervorgebracht hätten. Die Händler kontern damit, die Kunden seien eben wählerisch und suchten nach äußerlich perfekten Früchten.
Das ist vor allem in den USA der Fall, was mit dazu beiträgt, dass dort rund die Hälfte der Ernte weggeworfen wird und die Konsumenten beim Foodwaste als führend gelten. Dagegen macht auch Walmart mobil. Der weltgrößte Händler arbeitet nach eigenen Angaben an einer "Null-Abfall-Strategie", besonders bei Obst und Gemüse. Dazu soll eine neue Apfel-Marke beitragen. Sie heißt "I‘m perfect", die Früchte weisen allerdings äußerliche Makel auf, so dass sie normalerweise in den USA unverkäuflich wären. Zwölf Sorten mit "missratenen" Exemplaren, von Granny Smith bis Red Delicious, sind zunächst in 300 Filialen in Florida erhältlich. Walmarts UK-Tochter Asda bietet "Wonky Veg" (schiefes Gemüse) 30 Prozent billiger an. Allein bei Karotten hätten die Farmer so "300 Tonnen Abfall pro Jahr" vermeiden können, heißt es.
Tegut geht die Frage mit seinem Gemüse-Lieferanten Remlinger Rüben ganzheitlich an. Bei Kartoffeln etwa soll es keinen Ausschuss mehr geben. Dicke Dinger vermarktet der Händler als Grillkartoffeln, Winzlinge gehen als Schwenkkartöffelchen weg. Für die Kooperation wurde der Fuldaer Filialist in diesem Jahr von der Initiative "Zu gut für die Tonne" ausgezeichnet (siehe Interview Seite 30). Auch den WWF dürfte das Vorgehen freuen. Nach seinen Schätzungen gehen jährlich 35 Prozent einer Kartoffelernte in Deutschland auf dem Weg vom Acker bis zum Teller verloren. Insgesamt beziffert der WWF die Lebensmittelverluste in Deutschland auf 18 Millionen Tonnen pro Jahr. 10 Millionen Tonnen davon könnten vermieden werden, "etwa durch ein verbessertes Management entlang der Wertschöpfungskette", so die NGO.
Darauf zielt die Studie "Lebensmittelabfalldaten für mehr Nachhaltigkeit in der Ernährungsbranche" ab, die das Zentrum für Nachhaltige Unternehmensführung (ZNU) an der Universität Herdecke im Auftrag des nordrhein-westfälischen Verbraucherschutzministeriums erarbeitet hat. Dabei entstand ein Leitfaden, der Hersteller dabei unterstützen soll, Foodwaste zu erfassen und zu vermeiden. "Es geht darum, globale und EU-weite Ziele greifbar und umsetzbar zu machen", erläutert Zentrumsleiter Dr. Axel Kölle. Er hat dabei vor allem die Schnittstellen zwischen Herstellern und Händlern entlang der Wertschöpfungskette im Blick.
Beteiligt waren Steinhaus, Kuchenmeister, Ültje und Söbbeke. "Gerade wir als Bio-Hersteller sind bestrebt, unsere Rohstoffe nicht zu verschwenden", sagt Nachhaltigkeitsexpertin Jennifer Czarnik. Söbbeke will Impulse aus dem Projekt aufnehmen, um zum Beispiel die Bestellabläufe mit dem Handel zu optimieren. Auch davor war das Unternehmen schon aktiv. So werde seit 2015 die Molke, die bei der Käseherstellung entsteht, aufbereitet und weiterverwendet. "Früher ging sie zu 100 Prozent an Landwirte als Tierfutter. Heute geben wir ein Drittel an die Lebensmittelindustrie ab, die sie, etwa in Babyprodukten, weiterverwendet", sagt Czarnik.
Dass Engagement gegen Verschwendung sich auszahlt, hat auch Sainsbury’s festgestellt. "Die Leute geben das ersparte Geld bei uns aus – für hochwertigere Lebensmittel", berichtet CEO Mike Coupe aus dem Swadlincote-Experiment. Zudem habe sich die Kundenbindung durch das Projekt nachweislich erhöht. So profitiert der Handel gleich doppelt.