Tesco-Aufsichtsratschef John Allan über Aldi, Lidl sowie Amazon Fresh und die Gründe, warum der marktführende britische Lebensmittelhändler seit einiger Zeit geradezu sanft mit seinen Lieferanten umgeht.
Herr Allan, Ihr CEO Dave Lewis agiert seit drei Jahren als Turnaround-Manager. In der Zeit hat er den Spitznamen "Drastic Dave" erhalten. Wie würden Sie seine Leistung bewerten?
Er hat einen hervorragenden Job gemacht, auch wenn Dave als Erster betonen würde, dass alles nur Teamarbeit gewesen ist. Trotz seines Spitznamens handelt er nie überstürzt und denkt sehr langfristig. Als er zu uns kam, kriselte es überall im Konzern. Wir verloren Umsatz, unsere Kunden waren fahnenflüchtig und die Beziehungen zu unseren Lieferanten angespannt. Alle diese Probleme hat er erfolgreich angepackt, so dass wir heute wieder auf Wachstumskurs sind.
Der Aktienkurs liegt dennoch unter dem Niveau von 2014. Vertrauen ihm die Finanzmärkte noch nicht?
Externe Ereignisse, wie Amazons Kaufangebot für Whole Foods in den USA, die unser Geschäft in England nur sehr langfristig beeinflussen könnten, haben etwaige Kursgewinne abgeschwächt. Am wichtigsten sind aber die längerfristigen Geschäftsaussichten, auf die wir uns konzentrieren. Wenn ich nicht an Tescos Zukunft geglaubt hätte, hätte ich den Job nicht angenommen. Auch hätte ich nicht jeden Cent, den ich als Chairman verdiene, in Tesco-Aktien und -Anleihen investiert.
Tesco hat gerade seine höchste Quartals-Steigerungsrate seit 2009 hingelegt. Dennoch sind Sie weit von den Vorsteuergewinnen des Spitzenjahres 2010/11 entfernt.
Die fetten Jahre sind für die gesamte Branche vorbei, da der britische LEH-Markt viel wettbewerbsintensiver geworden ist. Die Zeiten, in denen wir und der Branchenzweite J. Sainsbury Vorsteuerrenditen von knapp 6 Prozent erzielten, sind zweifellos Geschichte.
Die Investoren an der Londoner Börse müssten also nicht nur Tesco, sondern die ganze Branche meiden?
Professionell geführte Vollsortimenter können immer noch einen hohen Cashflow erzeugen. So sind wir zuversichtlich, bis zum Geschäftsjahr 2019/20 eine operative Marge von 3,5 bis 4 Prozent zu erreichen. Das wird uns ermöglichen, eine recht ordentliche Verzinsung des eingesetzten Kapitals (ROCE) zu erzielen.
Wenn Ihre Kapitalrendite hoch ist, warum lässt sie sich nicht in eine ordentliche Steigerung Ihres Nettogewinns umsetzen?
Wir hätten unsere Gewinne schneller und höher steigern können, aber das war nicht erste Priorität. Stattdessen haben wir uns entschieden, den Großteil unserer Kostenersparnisse in die Preise zu investieren. Denn attraktive Preise sind absolut wichtig, um verlorengegangene Kunden wieder zurückzugewinnen.
Um wie viel wurden die Preise gesenkt?
Wir liegen heute unter dem Preisdurchschnitt unserer Hauptwettbewerber im Vollsortimentsbereich, also J. Sainsbury, Asda und Morrisons.
Aber Ihre wirklichen Herausforderer in puncto Preis sind doch Aldi und Lidl UK. Was setzen Sie ihnen entgegen?
Wir schöpfen alle unsere Stärken aus, also Sortimentsbreite, Gesundheitsartikel und innovative Frischwaren-Eigenmarken. Durch die Einführung unserer "Farm-Brands"-Eigenmarkenlinie, die preislich unter unseren sonstigen Frischwaren-Eigenmarken positioniert ist, können wir es ohne Weiteres mit den deutschen Discountern aufnehmen. Wir reduzieren jetzt die Marktanteilsverluste gegenüber Aldi und Lidl.
Warum wachsen die Discounter dann immer noch so stark?
Im Gegensatz zu allen anderen britischen Händlern veröffentlichen diese zwar ihre flächenbereinigten Umsätze nicht, ihr Wachstum in Großbritannien ist aber primär organisch.
Sie haben die Sortimentsbreite als eine Ihrer Trumpfkarten im Wettbewerb mit den Discountern genannt. Warum wurde Ihr Sortiment dann seit 2014 um etwa ein Viertel geschrumpft?
Für unsere Kunden sind unsere Märkte immer noch eine Art Aladins Höhle, wenn es um Produktvielfalt geht, denn wir haben nur die Tiefe und nicht die Breite des Sortimentes reduziert. Dafür sind wir radikal alle Duplizierungen im Regal angegangen und haben damit viel Komplexität und Kosten verringert.
Kann das wirklich gutgehen? War das Geschäftsmodell der britischen Vollsortimenter nicht stets auf der Einnahme möglichst vieler Listungsgebühren der Lieferanten aufgebaut?
Nein, nicht mehr, denn wir haben unsere Geschäftsbeziehungen mit der Industrie völlig neu ausgerichtet. Wir sind viel transparenter geworden und veröffentlichen die Zahlungsziele unserer Lieferanten online. Auch haben wir die Anzahl möglicher Rabatte von 24 auf nur fünf reduziert. Insofern ist Tesco vom Saulus zum Paulus der Branche geworden.
Seit einem Jahr expandiert Amazon Fresh überraschend zügig in England. Jetzt übernimmt der Online-Riese den US-Biohändler Whole Foods, der auch neun Outlets in London betreibt. Könnte dieses Ereignis alle Spielregeln der Branche ändern?
Das weiß man noch nicht. Amazon hatte immer Probleme bei der Lieferung von Frischware in der erforderlichen Qualität und muss deshalb seine Lieferkette optimieren. Insofern war der Schritt nur logisch. Es ist auf jeden Fall interessant, dass ein Pure Player jetzt eine Mehrkanalstrategie verfolgt, so wie wir das bereits seit den 1990-er Jahren machen. Wir werden aber nicht Amazons nächsten Schritt abwarten, sondern entwickeln uns zügig weiter. Erst vor einigen Wochen haben wir die taggleiche Belieferung der Konsumenten auf ganz Großbritannien ausgeweitet.
Und damit Ihre Kosten erheblich erhöht.
Vielleicht, aber wichtiger ist doch, ob wir durch unser Mehrkanalkonzept höhere Margen erzielen, die die Mehrkosten ausgleichen. Machen Sie sich keine Sorgen um die Rentabilität unserer Online-Sparte. Wir sind auch Branchenprimus unter den britischen Lebensmittellieferservices – mit einem Marktanteil im Food-Bereich von rund 40 Prozent und wir erfreuen uns entsprechender Größenvorteile.
Warum steht dann in Ihrem letzten Geschäftsbericht, dass Ihre Online-Sparte einen "unterdurchschnittlichen Beitrag" zum operativen Gewinn des Konzerns leistet?
Wir sind mit unserer Rendite im Online-Food-Bereich durchaus zufrieden. Dies ist bei Nonfood, wo die Artikelzahl enorm hoch ist und sich die erforderlichen Skaleneffekte zum Teil noch nicht erreichen lassen, leider weniger der Fall. Es ist zum Beispiel recht teuer, von Südengland aus einen einzigen Kunden in Nordschottland mit einem Zelt zu beliefern. Deshalb bauen wir unsere Distributionslogistik aus und haben gerade ein neues Kommissionierzentrum für Nonfood in Milton Keynes eröffnet.
Bei der Kommissionierung von Lebensmitteln können Sie auf ein nationales Filialnetz von rund 3500 Outlets zurückgreifen. Sind das in einem weitgehend gesättigten Markt längerfristig nicht zu viele?
Die Marktsättigung, von der Sie sprechen, ist im Nonfood-Segment wesentlich stärker. Ich wäre heute nur ungern ein Modehändler in Großbritannien. Auf den innerstädtischen Einkaufsstraßen vieler unserer Provinzstädte findet man oftmals nur noch ein Café, einen Oxfam-Shop und ein Wettbüro. Supermärkte wird es aber immer geben, denn die Menschen müssen essen und trinken.
Warum haben Sie seit 2014 einige Dutzend Großflächen geschlossen oder Teile Ihrer Verkaufsflächen anderen Zwecken zugeführt?
Es stimmt zwar, dass wir etwa 60 Filialen in dieser Zeit dichtgemacht haben, aber das ist doch nicht der Rede wert. Bei unserem großen Vertriebsnetz gibt es immer eine Handvoll Outlets, deren Mietverträge auslaufen und auf Grund schwindender Kaufkraft im jeweiligen Einzugsgebiet nicht verlängert werden. Im großen Stil werden wir unser Filialnetz aber nicht straffen. Im Gegenteil, wir werden auch in diesem Jahr vor allem Convenience-Märkte und bei Bedarf auch Großflächen eröffnen.
Ende Juni hat Dave Lewis erneut die Kündigung von Tausenden Mitarbeitern bekanntgegeben. Wie wollen Sie das Ihrer Belegschaft vermitteln, nachdem Sie gerade steigende Ergebnisse gemeldet haben?
Keiner tut das gerne, aber wir agieren in einem sehr wettbewerbsintensiven Markt. Bezeichnenderweise haben unsere Hauptwettbewerber im Vollsortimentsbereich gleich nachgezogen. Die Kündigungen sind aber auch eine Konsequenz der Vereinfachung unseres Geschäftsmodells. Die Wahrheit ist, dass wir einfach nicht mehr so viele Mitarbeiter brauchen.
Aber das sind doch loyale Mitarbeiter, die mit Tesco in seiner jüngsten Krise durch dick und dünn gegangen sind.
Was wäre denn die Alternative? Wären wir auf Kostenseite nicht wettbewerbsfähig, könnten wir nicht in unsere Preise investieren, was längerfristig zum Geschäftsuntergang führen würde. Vergessen Sie nicht, dass wir allein im Vereinigten Königreich mehr als 300.000 Mitarbeiter beschäftigen. Die Zahl der Entlassungen macht nur einen relativ kleinen Prozentsatz unserer Belegschaft aus. Außerdem haben wir das Verkaufspersonal in den Filialen erhöht. Dort sind die Kunden, und nicht in der Zentrale, wo wir das Gros der Personalkosten einsparen wollen.
Großbritanniens größte Tageszeitung, die Daily Mail, moniert, dass Dave Lewis jetzt eine Umzugsprämie von 154.000 Euro erhält, damit er näher an der Zentrale leben kann. Fehlt es da nicht an Taktgefühl, wenn sein Grundgehalt bei 4,6 Millionen Euro liegt?
Fakt ist, dass die Übernahme seiner Umzugskosten bereits bei den Vertragsverhandlungen fixiert wurde, als wir ihn von Unilever abgeworben haben. Dieser Mann arbeitet von früh bis spät und hat schließlich keine 40-Stunden-Woche. Übrigens: Auch andere Mitarbeiter erhalten Umzugsprämien.
Geht es hier nicht doch nur um einen weiteren fetten Bonus, den sich das Tesco-Management genehmigt?
Unsinn, Sie reden von einem Mann, dessen erste Amtshandlung es war, die Firmenjets und eine Reihe von geschäftlichen Unterhaltungsaktivitäten abzuschaffen. Vor allem dank Dave Lewis ist Tesco jetzt sehr kostenbewusst geworden.
Dieses Gespräch war wesentlich angenehmer als einige knallharte Interviews mit dem Tesco-Management der Vergangenheit.
Wir haben uns geändert. Wir gehen mit den Menschen, einschließlich Journalisten und Analysten, heute anders um als zuvor. Wir sind jetzt bereit, auch konträre Standpunkte zu diskutieren. Sonst würden wir heute nicht mit Ihnen reden.